„Mal sehen, wo die Solidarität bleibt, wenn das normale Leben wieder beginnt“

17April
2020

Täglich liest sie, was in dem so schrecklich von Corona geschüttelten Lieblingsland der Deutschen los ist: Silvia Niedermeyer, Italienerin in Baden-Baden, appelliert im Interview an die Vernunft

Frau Niedermeyer, was tut sich aktuell in Ihrer alten Heimat?

Silvia Niedermeyer: „Die Italiener freuen sich über ein paar Lockerungen: Erste Buchhandlungen und Wäschereien wurden am Dienstag geöffnet. Dabei soll auch getestet werden, ob Abstandsregeln in den Geschäften eingehalten werden können. Die Ausgangssperre in Italien gilt noch bis zum 3. Mai.“

Wie gehen Ihre Landsleute mit der Krise um?

Silvia Niedermeyer: „Die singen auf den Balkonen oder gehen an die frische Luft, aber die Grünflächen sind geschlossen und werden kontrolliert. Die Gefangenen rebellieren, weil sie keine Besuche empfangen können. Ganz schlimm ist es für die alten Leute im Altersheim, die auch niemanden sehen dürfen. In Italien hat die Familie einen sehr hohen Stellenwert. Sie nicht zu sehen, schmerzt sie sehr.

Ich lese täglich, was in Italien passiert und ich merke, dass auch dort die Menschen langsam die Geduld verlieren und viele die Anordnungen nicht respektieren, auch wenn sie empfindlichen Strafen zahlen müssen. Interessant war der Kommentar eines Journalisten: ,Die Menschen lernen nicht, sie vergessen!’

Aber das Lächerlichste ist das Verbot der Prostitution: Sie floriert weiter, weil die armen Frauen ja ,arbeiten’ müssen, sonst haben sie nicht zu essen, für sie gibt keine Subventionen vom Staat. Unterdessen hat der Papst ja höchstpersönlich den Herrgott gebeten, die Corona-Krise zu beenden. Mal sehen, was er antwortet!“

Was, glauben Sie, ist das Gebot der Stunde?

Silvia Niedermeyer: „Es läuft alles aus dem Ruder, wenn man nicht KONSEQUENT handelt. Ein Beispiel aus Mailand: Der Bürgermeister hat die Wagen der Metro reduziert, um die Infektion zu verhindern. Das Resultat: Alle, die arbeiten fahren, immer noch sehr viele, verstopfen die wenigen Wagen beim Berufsverkehr – einmal morgens, einmal abends. Sonst sind die Wagen leer, es gibt noch Ausgangsverbot und ansonsten gilt 1,50 Meter Abstand – in der Metro! Die Bibliotheken, wo viel Abstand herrscht, sind geschlossen, aber die Friseure haben in einigen Regionen auf und protestieren, mit Recht, dass niemand mit ungepflegten oder ungeschnittenen Haaren sterben wolle.“

Wie vertreiben Sie sich jetzt die Zeit?

Silvia Niedermeyer: „Ich interessiere mich sehr für Kultur und sie vermisse ich in dieser Zeit am meisten. Aber es gibt Videos, CDs, Radiosender, die wunderbare Musik anbieten. Im Haus habe ich auch noch die vielen Bücher, die ich im Herbst in der Bibliothek für vier Euro das Kilo gekauft habe. Außerdem beschäftige ich mich mit dem jungen Mozart und bereite einen Vortrag vor: ,Der junge Mozart in Italien’. Diesen werde ich, wenn alles vorbei sein wird, im Deutsch-Italienischem Kreis halten.“

Solidarität ist ein oft gebrauchtes Wort in diesen Tagen. Ihre spontane Assoziation?

Silvia Niedermeyer: „Mal sehen wo die Solidarität bleibt, wenn das normale Leben wieder anfängt.“

Foto: FBB-Archiv