„Das Kurhausviertel hat dem Marktplatz den Rang abgelaufen“

27April
2021

Ihr Büro im Stadtarchiv ist nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt. Dagmar Rumpf kennt sich in der Geschichte der Kurstadt so gut aus wie kaum jemand. Deshalb wollten wir von der Archivarin erfahren, welche Rolle der Marktplatz früher einmal spielte. Er hatte – die Hauptrolle! Cornelia Mangelsdorf berichtet.

Es ist Mittag, die Sonne lacht. Der Marktplatz wirkt ruhig und erhaben. Schön wäre es, jetzt hier oben einen Kaffee bestellen zu können oder sich eine Butterbrezel zu kaufen. Doch das Café-Restaurant M10 ist Corona-bedingt zu – und einen Bäcker gibt es schon lange nicht mehr an diesem malerischen Ort. Die Hoch-Zeit des Marktplatzes – ist Geschichte. Früher war das anders!

Römische Vergangenheit

„Die Blütezeit des Marktplatzes begann schon in der Römerzeit“, erklärt Dagmar Rumpf*. „Unter dem Marktplatz befinden sich noch die Badruinen.“ Und sie zeigt auf die schwarzen Pflastersteine vor uns, die den Grundriss des Bades nachzeichnen. Ein Schild mit Erklär-Hinweis wäre schön – doch die Vermarktung dieses schönen Platzes findet praktisch nicht statt. Warum eigentlich? Zu erzählen gibt es genug – man muss nur Dagmar Rumpf fragen!

Reges Stadtzentrum im Mittelalter

Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit stand der Marktplatz im Mittelpunkt des Stadtgeschehens. „Zentrum jeden Ortes ist in der christlichen Welt die Kirche und der Platz drum herum. Unsere Stiftskirche ist bezeugt vom Ende des 10. Jahrhunderts. Und man kann davon ausgehen, dass schon vorher hier eine Kirche stand.“ Hier waren Bäcker, Metzger, Handwerker angesiedelt. „Der Wochenmarkt fand tatsächlich noch bis 1980 hier oben statt“, erklärt die leidenschaftliche Spurensucherin.

Ein ganzes Viertel verschwand

„Erst in jüngerer Zeit begann der Verfall des Marktplatzes“, betont sie. Wir sitzen auf den Treppen, gegenüber der Stiftskirche. Handwerker machen hier ihre Mittagspause, ein paar Menschen schlendern um das Alte Dampfbad herum. „Hier, hinter den Treppen, standen früher Häuser. Es war ein kleinbürgerliches Viertel, mit zwei kleinen Gassen. Doch bis 1971 wurde alles abgerissen. Die gute Lage war die Gernsbacher oder auch Lange Straße sowie die Oberstadt, in der Nähe des Neuen Schlosses. Wer dort oben eine Adresse hatte, war buchstäblich oben angekommen. Der Marktplatz war somit das verbindende Element zwischen der Oberstadt und der Unterstadt.“

Der Abriss der „Rose“ war der Anfang vom Ende

Die Archivarin erzählt weiter: „Hier stand auch das Gasthaus Rose. Es wurde 1937 abgerissen. Und das war der Anfang vom Ende. Dabei war das ein schnuckeliges Stadtviertel mit schönen alten windschiefen Häusern.“

Doch in der Stadt muss man in den 1950-er Jahren wohl ziemlich emotionslos agiert haben, was alte Bausubstanz angeht. „Das ist schon seltsam“, wundert sich Dagmar Rumpf. „Wir hatten keine Kriegszerstörung in Baden-Baden, damit hätte man doch wuchern können! Doch man hat den Wert der alten Bausubstanz wohl nicht abschätzen können. Natürlich waren die Häuser hier oben renovierungsbedürftig. Doch es fehlte der Wille, das Marktplatzviertel zu sanieren. Das war natürlich mit Protesten verbunden, vor allem bei den Bürgern, die ein historisches Bewusstsein hatten.“

Die Geschäftsleute gaben auf

Mit dem Abriss des Marktplatz-Viertels sind dann auch die Handwerker verschwunden. Die paar Geschäfte, die sich jetzt noch hier oben befinden, locken nicht genügend Menschen an, um aus dem Marktplatz ein belebtes Fleckchen zu machen.

Und dann zog auch noch der Markt um

Das Argument, den Wochenmarkt zu verlegen, weil es nicht zumutbar sei, den Berg hochzukommen, kann Dagmar Rumpf nicht nachvollziehen. „Das spricht für eine verweichlichte Generation, die keine Anstrengung mag. Doch als der Markt weg war, war hier oben tote Hose.“ Auch der Weihnachtsmarkt fand zuletzt vor gut 20 Jahren hier oben statt, vermutlich aus denselben Gründen: zu unbequem zu erreichen.

Quirliges Leben der Badegäste

Noch im 19. Jahrhundert fand hier das Kurleben statt, begründet durch die Quellen, die hier entspringen. Eine kleine Tür am Alten Dampfbad führt zu ihnen. Es befanden sich zahlreiche Herbergen für die Badegäste in der Nähe. „Anfang des 19. Jahrhunderts gab es hier oben auch noch eine Trinkhalle. Die stand dann bis Ende des 19. Jahrhunderts. Dann hat das Kurviertel an der Oos ihm den Rang abgelaufen“, erklärt Dagmar Rumpf.

Ort der Entscheidungen – und Bestrafungen

Im Mittelalter soll hier oben auch das Rathaus gestanden haben. „Doch der Stadtbrand hat es 1689 vernichtet. Dieses Rathaus hatte Arkaden, ähnlich wie das Rathaus in Michelstadt. Und dort wurde Markt gehalten.“

Der Marktplatz – war das pulsierende Herz: „Alles, was in der Stadt entschieden wurde, wurde hier oben entschieden.“ Dagmar Rumpf weist auf ein Detail hin: „An der Stiftskirche ist ein Schwert abgebildet, links vom Haupteingang. An dieser Stelle war einst der Pranger. Todesstrafen hat man hier nicht vollzogen, aber Ehrenstrafen. Hier wurden Menschen an den Pranger gestellt, also öffentlich zur Schau gestellt, weil sie gestohlen oder die Ehe gebrochen hatten.“

Es fehlt das pulsierende Leben

Und heute? Ist es fast ein wenig trostlos hier oben. „Es würde mich freuen, wenn der Marktplatz wieder belebt würde. Und ich finde es traurig, das sich Touristen nur am Kurhaus aufhalten und gar nicht wissen, welches Juwel sich hier oben befindet. Denn klar ist: Die Gäste, die sich hierher verirren, denen gefällt es.“ Bleibt zu hoffen, dass das Café-Restaurant M10 bald wieder aufmacht, denn es sei „ein Gewinn“, pflichtet Dagmar Rumpf bei.

Der Marktplatz braucht mehr mediale Aufmerksamkeit

Eine Aufgabe bleibt: den Marktplatz zu beleben und seine bewegte Geschichte zu erzählen. Sehr optimistisch ist Dagmar Rumpf aber nicht: „Sobald Stadtgeschichte anstrengend wird, verlieren viele das Interesse.“

*Bei Recherchen stieß die Archivarin auf ein dunkles Kapitel der Stadt: Hexenverfolgung. In ihrem Roman „Nichts von dir soll übrig bleiben“, der 2020 erschien, beschreibt sie das Schicksal der Baden-Badenerin Anna Weinhag. Die Protestantin überlebte zweimal die Folter.

Foto: FBB-Archiv